News
Fünf Jahre Familientrennung qua Gesetz: Eine bittere Bilanz
Vor fünf Jahren wurde der Familiennachzug für subsidiär Geschützte ausgesetzt, zwei Jahre darauf wurde die Regelung gar in Gesetzesform gegossen. Seitdem sind tausende Familien voneinander getrennt. Ein Gutachten von PRO ASYL und JUMEN legt unsichtbare Hürden und die Verfassungswidrigkeit beim verweigerten Familiennachzug offen.
Wenn keine expliziten Gründe politischer Verfolgung vorliegen, erhalten Geflüchtete aus Kriegsgebieten oft einen subsidiären Schutzstatus. Vor fast fünf Jahren, am 16.03.2016, hat der Deutsche Bundestag beschlossen, für diese Gruppe von Menschen das Recht, als Familie zusammenzuleben, für zwei Jahre vollständig auszusetzen. Gerechtfertigt wurde das von der beteiligten SPD damals auch mit der geringen Zahl an Schutzsuchenden mit diesem Schutzstatus. Kurz darauf änderte sich die Praxis im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und syrische Flüchtlinge erhielten zunehmend den subsidiären Schutz für Bürgerkriegsflüchtlinge anstelle des Flüchtlingsschutzes nach der Genfer Konvention.
Ursprünglich war 2016 von der Politik auch versprochen worden, dass die alte Rechtslage nach zwei Jahren automatisch wieder in Kraft treten und das Recht auf Familiennachzug wieder möglich sein solle. Realität wurde allerdings das traurige Gegenteil: Mit dem, am 01.08.2018 in Kraft getretenen, Familiennachzugsneuregelungsgesetz wurde eine Kontingentregelung eingeführt, die aus einem Rechtsanspruch nur mehr einen Gnadenakt des Staates macht.
Heute stellen wir fest: Tausende Familien sind seit Jahren dauerhaft getrennt und viele haben überhaupt keine Chance, zusammenzukommen.
Heute stellen wir fest: Tausende Familien sind seit Jahren dauerhaft getrennt und viele haben überhaupt keine Chance, zusammenzukommen. Vor allem syrische und eritreische Schutzsuchende sind von der Einschränkung des Familiennachzugs betroffen. Eine Rückkehr, um als Familie zusammenzuleben, ist in diese Länder jedoch nicht möglich.
Zermürbte Familien
Gemeinsam mit der Organisation JUMEN haben wir seit August 2018 die Praxis des Nachzugsverfahrens analysiert und zeigen in dem Ergebnispapier »Zerrissene Familien – Praxisbericht und Rechtsgutachten zum Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten« praktische Probleme und die Rechtswidrigkeit auf. Das Gutachten bestätigt die Verfassungswidrigkeit der Regelung. Grundgesetz, Europäische Menschenrechtskonvention, EU-Grundrechte-Charta und UN-Kinderrechtskonvention werden verletzt. Die Familien werden indessen von den jahrelangen Wartezeiten einfach zermürbt, ihr Leid wird noch nicht einmal mehr öffentlich wahrgenommen.
Khaled W.* hat es aus Afghanistan nach Deutschland geschafft – und versucht seit Sommer 2018, den Familiennachzug für seine Frau und die Kinder zu erreichen. Sie haben alle Unterlagen zusammen, der Bruder von Khaled unterstützt seine Frau in dem Verfahren. Aber es treten neue Hürden auf: Für die Vollmacht fordert IOM nun extra eine notarielle Beglaubigung, was sonst unüblich ist. Das Verfahren verzögert sich weiter.
Auswärtiges Amt entzieht sich gerichtlicher Kontrolle
Das Verfahren zum Familiennachzug wird vom Auswärtigen Amt so gesteuert, dass die Rechtswidrigkeit von Gesetzgebung und Ablauf des Verfahrens von Gerichten nicht festgestellt werden kann. Es werden nur 1.000 Anträge pro Monat entgegengenommen – eine Klagemöglichkeit hat aber nur derjenige, dessen Antrag überhaupt erst einmal bearbeitet und dann abgelehnt wurde.
Dadurch können gerade die Fälle, die mit ihren Anträgen nie durchkommen oder in Warteschleifen hängen, nicht vor das zuständige Verwaltungsgericht Berlin gebracht werden. Das politisch hochumstrittene Gesetz zur Kontingentierung wird somit einer gerichtlichen Kontrolle entzogen. In großem Stil wird der Familiennachzug verhindert, ohne dass die Entscheidungen transparent nachvollziehbar sind und somit das Behördenhandeln durch Gerichte geprüft wird.
Die Verfahren werden mit der Beteiligung von IOM, Auswärtigem Amt, Botschaften, Ausländerbehörden und Bundesverwaltungsamt aufgebläht und völlig intransparent, Betroffene werden jahrelang hingehalten.
Der 66-jährige Ahmed K.*, eingereist 2015, wird im Mai 2017 als subsidiär Schutzberechtigter anerkannt. Seine Frau bemüht sich monatelang um einen Termin bei IOM in Beirut, Anfang Januar 2020 erhält sie ihn endlich – fünf Jahre ist das Paar da bereits getrennt. Kurz danach, Mitte März, wird das Visum erteilt, es verfällt jedoch wieder, weil die Einreise unter Corona-Bedingungen nicht innerhalb der Frist gelingt. Derzeit läuft ein neuer Antrag auf Neuvisierung.
Lange Wartezeiten, fehlende Priorisierung
Allein der Antragstellung bei den Auslandsvertretungen gehen Termin-Wartezeiten von zwölf bis 18 Monaten voraus. Danach sind die Ausländerbehörden am Zug – viele blockieren durch im Gesetz nicht vorgesehene Prüfanforderungen. Beispielsweise wird in der Praxis oft der Wohnraumnachweis oder die Lebensunterhaltssicherung gefordert, welche ausdrücklich keine Voraussetzung sein sollen. Das Verfahren ist vom Auswärtigen Amt so organisiert, dass weder bei den Botschaften, noch bei den Ausländerbehörden, noch beim Bundesverwaltungsamt eine Priorisierung von besonderer Härte stattfindet.
Und durch eine gedeckelte Terminvergabe schafft das Auswärtige Amt einen weiteren Flaschenhals: Oftmals werden kaum mehr als 1.000 Anträge im Monat von den Botschaften im Ausland an die Ausländerbehörden in Deutschland weitergeleitet (siehe Deutscher Bundestag, Drucksache 19/14640, S.10 ff.).
Frau X. möchte ihre drei Kinder im Alter von vier, sechs und acht Jahren aus Uganda zu sich holen. Die Ausländerbehörde verweigert die Zustimmung, weil die Mutter in Nachtschicht arbeitet und sich dann nicht um die Kinder kümmern könnte, wenn diese in Deutschland wären.
Falsche Zahlenprognosen als Grundlage
Um die gesetzlichen Regelungen zu erwirken, haben politisch Verantwortliche mit massiv überhöhten Zahlenprognosen Angst geschürt. Der heutige Bundesinnenminister Horst Seehofer hatte beispielsweise in den Koalitionsverhandlungen mit der SPD Anfang 2018 gewarnt, bis zu 300.000 Angehörige würden nach Deutschland kommen wollen, wenn der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten wieder ermöglicht würde.
Es gibt keinen Grund, politisch Verfolgte aus Syrien anders zu behandeln, als vor Folter, Todesstrafe oder unmenschlicher Behandlung durch das Assad-Regime Geflohene.
Die Realität widerlegt ihn: Seit August 2018 wurden insgesamt nur 19.056 Familiennachzugsvisa erteilt, aktuell liegen noch für 11.400 Personen entsprechende Terminanfragen vor. Rechnet man dies zusammen beträgt die aktuelle Zahl nur ein Zehntel der damaligen Prognose.
Im gesamten Jahr 2020 wurden nur 5311 Visa weltweit an Angehörige von subsidiär Geschützten durch die deutschen Botschaften erteilt, also 44,2 % des festgelegten 1000er Kontingents. In den 29 Monaten seit Beginn der Neuregelung wurden statt der zugesagten 29.000 Visa nur 19.056 Visa erteilt, das entspricht 65,7% der versprochenen Zusage.
Das Familiennachzugsneuregelungsgesetz gehört aufgehoben!
Der Praxisbericht und das Rechtsgutachten zeigen die Verstöße gegen Grund- und Menschenrechte und die fatalen Auswirkungen der getroffenen gesetzlichen Regelungen auf:
- Das Kontingent sowie die in der Praxis auftretenden, erheblichen Wartezeiten und das nicht ausgeschöpfte Kontingent verstoßen gegen das Recht auf Familienleben in Art. 6 GG und in Art. 8 EMRK.
- Das Kindeswohl gem. Art 3 UN-Kinderrechtskonvention wird mangels fehlender Priorisierung nicht berücksichtigt.
- Die unterschiedlichen Regelungen für Menschen mit Anerkennung nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK-Flüchtlinge) und subsidiär Schutzberechtigte verstoßen gegen das Diskriminierungsverbot des Grundgesetzes und der EU-Grundrechte-Charta. Es gibt keinen Grund, politisch Verfolgte aus Syrien anders zu behandeln, als vor Folter, Todesstrafe oder unmenschlicher Behandlung durch das Assad-Regime Geflohene. Beide Gruppen können auf unbestimmte Dauer nicht in das Herkunftsland zurück.
Wir fordern:
Auch für subsidiär Geschützte muss das Recht, als Familie zusammenzuleben, gewährleistet werden, sie müssen rechtlich wieder mit GFK-Flüchtlingen gleichgestellt werden da beiden Gruppen der Weg in das Herkunftsland längerfristig versperrt ist.
Außerdem muss die Familieneinheit zeitnah hergestellt, das Visum zur Einreise spätestens innerhalb von drei Monaten erteilt werden. Wenn für erwünschte Arbeitsmigration in wenigen Wochen ein Visumsverfahren abgeschlossen ist, dann muss dies auch für geflüchtete Familien gelten. Dabei darf die Corona-Pandemie nicht als Grund vorgeschoben werden. Sie hat die Situation verschärft, ist jedoch nicht die Ursache.