News
»Es geht nicht immer nur abwärts. Das muss aus den Köpfen raus«
Fast vier Jahrzehnte lang hat Bernd Mesovic in unterschiedlichen Aufgabenbereichen die Menschenrechtsarbeit von PRO ASYL mitgeprägt. Im Herbst 2019 ging der rechtspolitische Experte in den Ruhestand – und lässt mit uns die gemeinsam gekämpften Jahre Revue passieren.
PRO ASYL: Bernd, Anfang der 90-er erlebte Deutschland zunächst die Einheit und danach eine Reihe rechter Aufmärsche und rassistischer Anschläge. Wie hast Du diese Zeit erlebt?
Bernd Mesovic: Rückblickend war ich mit meinen Gefühlen rund um die deutsche Einigung ein bisschen naiv. Als die Grenze aufging, habe ich geheult vor Glück. Ich sah die Bilder im Fernsehen und wollte am liebsten raus und mitfeiern. Ich dachte: Wir sind das Volk. Das klang erst einmal nicht nach einer nationalistischen oder ausländerfeindlichen Parole. Wenig später war es dann eine.
Es gab auch schon in der DDR ein gerüttelt Maß an Ausländerfeindlichkeit und Rassismus, damals gegenüber den Vertragsarbeitnehmer*innen aus Vietnam, Angola und Mosambik – es durfte nur nicht darüber berichtet werden. Nach der Einheit sind die rassistischen und rechtsextremen Potentiale, die es überall in Deutschland gab, reaktiviert worden. Es gab sehr schnell intensive Zusammenarbeit zwischen Rechtsextremist*innen aus Ost und West – entgegen der Auffassung, es habe sich um einen reinen Export in Richtung Osten gehandelt.
Du warst mit der Flüchtlingsarbeit schon früh in Sachsen und Thüringen unterwegs. Wie erging es Geflüchteten dort?
Seit Ende 1990 wurden Asylsuchende auch in den Osten verteilt. Viele kamen bedroht und geprügelt in den Westen zurück und wurden hier provisorisch wieder aufgenommen und notversorgt. Orte, die schon damals wegen Neonazi-Übergriffen und rechtsextremer Gewalt von sich Reden machten, gehören zum Teil heute noch zu den problematischen Gegenden.
Wurden rassistische Gewalt und ihre Ausmaße in der Öffentlichkeit thematisiert?
Rostock und Hoyerswerda schafften es – wie im Westen die Taten von Mölln und Solingen – in die Medien. Was in kleineren Orten passierte und den Alltag zehntausender Flüchtlinge prägte, blieb höchstens Randnotiz: hier ein Brandsatz auf das Flüchtlingswohnheim, dort Pöbeleien im Bus oder gewalttätige Angriffe auf offener Straße. Einige der damaligen Hotspots existieren bis heute. An anderen Orten haben Initiativen das Klima gedreht. Lange hat es aber gedauert, bis die Politik eingeräumt hat, dass es bereits früh einen brutalen organisierten Rechtsextremismus gab, der das Thema Asyl missbraucht hat, bis hin zum NSU.
Kurz danach gab es mit dem sogenannten Asylkompromiss den bis dato größten Einschnitt in das Asylgrundrecht. Wie war die politische Stimmung im Land?
Dem Asylkompromiss ging eine monatelange hässliche Debatte voraus, gespickt mit Parolen wie »das Boot ist voll«. Die Union hat unter ihrem damaligen Generalsekretär regelrechte Kampagnen gefahren: Wer dagegen ist, dass Artikel 16 des Grundgesetzes geändert wird, machte sich sozusagen schuldig daran, dass so viele kommen.
Die Bestandteile bzw. Folgen des Asylkompromisses sind bis heute spürbar.
Ja, Deutschland ist seitdem von sogenannten »sicheren Drittstaaten« umgeben – unter der Fiktion, »wenn Flüchtlinge überall durchreisen müssen, können sie nicht bei uns anlanden und wir können sie zurückschicken«. Für Asylsuchende, die auf dem Luftweg kamen, führte man das Flughafenverfahren ein, mit verkürztem Rechtsweg und knappen Fristen für Rechtsmittel samt Internierung im Transitbereich des Flughafens, wenn das Bundesamt den Antrag als »offensichtlich unbegründet« ablehnt. Diese Kategorie ist unklar gefasst und lädt zum Missbrauch durch das BAMF und Teile der Richterschaft ein – nicht nur auf den Flughäfen. Der Kampf gegen dieses extrem gefährliche Schnellverfahren – insbesondere vor unserer Haustür am Flughafen Frankfurt – hat uns geprägt.
Waren bei so einem Schnellverfahren Fehlentscheidungen nicht vorprogrammiert?
Kaum war das Flughafenverfahren installiert, wurde ein Sikh aus Indien abgeschoben, obwohl man hätte wissen müssen, dass er in Indien wegen einer angeblichen terroristischen Straftat die Todesstrafe zu erwarten hatte. Er landete dann tatsächlich für viele Jahre in einer indischen Todeszelle – also der größte anzunehmende Unfall gleich nach Einführung des Verfahrens. Man kann sich gar nicht vorstellen, was »Death Row« in Indien über eine lange Zeit hinweg bedeutet. Abgesehen von diesem extrem dramatischen Fall gab es immer wieder Fehlentscheidungen nach mangelhaften Asylverfahren, wie z.B. eine Untersuchung »Hastig, unfair, mangelhaft« es an konkreten Fällen belegt hat.
Konnte PRO ASYL etwas gegen das Schnellverfahren ausrichten?
PRO ASYL initiierte Untersuchungen zu den Mängeln in konkreten Fällen (Anm. d. Red.: siehe auch hier), die mit dazu führten, dass die Zahl der Fälle, in denen auf »offensichtlich unbegründet« entschieden und auf dieser Basis abgeschoben wurde, über Jahrzehnte hinweg überschaubar blieb. Geändert hat sich das erst nach 2015 und insbesondere in den letzten beiden Jahren. Der Missbrauch der Kategorie »offensichtlich unbegründet« ist inzwischen zur offiziellen Politik geworden, wie Zahlen belegen.
Auch die Ernennung sogenannter »sicherer Herkunftsstaaten« geht auf den Asylkompromiss zurück. Was ist daran problematisch?
Das sind Länder, deren Menschenrechtslage angeblich so beschaffen ist, dass Verfolgung im Regelfall nicht zu befürchten ist. Wenn jemand sagt, ich werde trotzdem verfolgt, wird die Beweislast quasi umgekehrt, d.h. er*sie muss belegen, dass es in seinem*ihrem ganz konkreten Fall anders ist – eine ganz hohe Hürde, praktisch kaum zu schaffen.
Wie hat die Zivilgesellschaft auf diesen Eingriff in das Grundrecht reagiert?
Wie viele andere, die in Deutschland unter Schock standen, musste auch PRO ASYL erst lernen, damit umzugehen, dass der Artikel 16 so demoliert worden war. Es war einer aus der Erlebnis-Generation, Herbert Leuninger, der die Richtung vorgab, dass wir uns der Europäisierung der Flüchtlingsrechte und der Genfer Flüchtlingskonvention zuwenden müssen und nicht von der Trauerarbeit um Artikel 16 leben können. Das war der Anstoß zur Weitung des Blicks von der nationalen Grundrechtsdebatte zu internationaler Kooperation, insbesondere mit Aktivist*innen und NGOs. Herbert Leuningers Generation hatte noch erlebt, wie das Asylrecht vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Nazi-Faschismus im Grundgesetz verankert wurde.
Einige Jahre später hat das Bundesverfassungsgericht verhandelt, ob das Flughafenverfahren verfassungskonform ist. Wie hast Du das erlebt?
Ich war während der Verhandlung im Gerichtssaal in Karlsruhe, die Atmosphäre war sehr quälend. Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass eine asylkundige Beratung am Flughafen einzurichten ist. Die sollte es allerdings erst geben, wenn jemand im Verfahren abgelehnt war. Nach Ansicht des Bundesamtes sollten die Leute also spontan und unbeeinflusst in die Anhörung gehen und dann ihre Entscheidung kriegen. Selbst die nachträgliche Minimalberatung, meines Erachtens schon fast ein Feigenblatt des Verfassungsgerichts, wurde aus dem Bundesinnenministerium noch lange hintertrieben.
Was tat PRO ASYL?
Wir haben über Wochen anstelle des BMI eine Rechtsberatung am Frankfurter Flughafen finanziert und eine kleine Kampagne, »Das Weihnachtsgeschenk für Herrn Kanter«, den damaligen Bundesinnenminister, gemacht. Damit konnten wir anstoßen, dass der Karlsruher Urteilsspruch umgesetzt wurde. Das ist nicht viel, aber selbst dazu musste man das damalige Innenministerium anhalten.
Immerhin ein kleiner Erfolg. Wie hat Kampagnenarbeit für die Rechte Geflüchteter in solch extrem schwierigen Zeiten ausgesehen?
Wir hatten bei vielen Themen vielleicht nicht die Mehrheit, aber einen Resonanzboden. Bei der ersten Bleiberechtskampagne für Langzeitgeduldete standen Kinder und Jugendliche im Mittelpunkt. Sie waren hier großgeworden, waren überwiegend in der Schule, sind eigentlich Deutsche. Sie waren die Gesichter dieser Kampagne, haben ihre Geschichten öffentlich gemacht und später sich selbst auch organisiert – nach dem Motto: Wir sind hier und wir gehören hierher. Das fand Anklang in den Schulen, bei Klassenkamerad*innen, Lehrer*innen und war irgendwann auch in der Politik nicht mehr zu überhören.
Die Bleiberechtsregelungen, die irgendwann darauf folgten, waren vom Ergebnis her eher schlechtgestrickte Kompromisse.
Da würden einige Richter*innen aus der oberen Instanz mit mir gemeinsam fluchen. Bei einer Bleiberechtsregelung mit massenhaft Ausschlussgründen, die quasi immer Öffnungsklauseln für restriktive Interpretationen sind, sind doch jahrelange Auseinandersetzungen absehbar. Am Ende haben Richter*innen Gesetzestexte umzusetzen, die widersprüchlich, aufgeweicht, etc. sind. Die Öffnung der Bleiberechtsregelung würde ich dennoch auf der Erfolgsseite verbuchen, so beschränkt die Auswirkungen quantitativ auch sein mögen.
»Ich habe in der Flüchtlingsarbeit mit afghanischen und eritreischen Flüchtlingen angefangen. 40 Jahre später gehe ich aus diesem Job heraus und es gibt immer noch afghanische und eritreische Flüchtlinge.«
Gibt es Themen, die immer wiederkehren? Fragen von heute, die Dich schon vor Jahren beschäftigten?
Ja, die lange Dauer von Fluchtbewegungen, die sich über Jahrzehnte hinziehenden Fluchtsituationen, die vielen Menschen, die ohne Mindestsicherheiten und Rechte in den Niemandsländern dieser Welt festsitzen, die geringen Hoffnungen auf eine Rückkehr in Sicherheit und Würde. Ich habe beispielsweise in der Flüchtlingsarbeit mit afghanischen und eritreischen Flüchtlingen angefangen. 40 Jahre später gehe ich aus diesem Job heraus und es gibt immer noch afghanische und eritreische Flüchtlinge.
Was ist von den Friedensverhandlungen der vergangenen Monate und Jahre in Afghanistan zu halten?
Bei Afghanistan sehe ich auf lange Sicht keine Chance auf eine Rückkehr in ein befriedetes Land mit menschenrechtlichen Garantien, selbst wenn der Verhandlungsprozess zwischen Regierung und Taliban weitergeht. Es ist ebenso zynisch, wenn die Nachbarstaaten Afghanistans afghanische Flüchtlinge nach vielen Jahren des rechtlosen Aufenthaltes in großen Zahlen zur Rückkehr zwingen. Nicht minder zynisch ist die deutsche Praxis, das Damoklesschwert der Abschiebungen nunmehr seit Jahren über den Köpfen der Afghan*innen hierzulande schweben zu lassen. Käme es durch ein Wunder zu einem Frieden in Afghanistan, dann wäre es ein Projekt für mehrere Generationen, die Traumata eines vierzigjährigen Krieges zu verarbeiten, das Land aufzubauen und die Konflikte nicht nur provisorisch stillzulegen. Ganz abgesehen von der Frage, was das für diejenigen bedeutet, die sich in eine traditionelle Gesellschaft nicht einordnen können und wollen.
Was können Menschenrechtsorganisationen und in der Flüchtlingsarbeit Aktive noch hoffen oder auch erwarten, gemessen am derzeitigen gesellschaftlichen Klima und den Verschärfungen der vergangenen Jahre?
Das Bild einer schiefen Ebene, bei der es immer abwärts geht, muss aus den Köpfen raus. Ich habe es eher wie eine Wellenbewegung erlebt, die an bestimmte Dinge stark anknüpft: Terroranschläge sind z.B. ein Punkt, an dem die Debatte hochkocht oder auch Gewalttaten wie etwa die von Augsburg im Dezember 2019, bei der ein Mann bei einer Auseinandersetzung mit Jugendlichen starb.
Dann gibt es wieder Phasen größerer Vernunft, beispielsweise in der Debatte um die Fachkräftezuwanderung. Wir haben etwa in Baden-Württemberg eine Unternehmerschaft, die sagt: Auf den letzten Abschiebungsflügen waren viele unserer Leute, die in Jobs oder Ausbildung waren, das Spiel macht so keinen Sinn. Es ist denkbar, dass sich das Thema Arbeitsmarktzugang auf diese Weise noch mehr öffnet. Bitter bleibt allerdings, dass selbst in diesem Fall die wirtschaftliche Verwertbarkeit im Vordergrund steht, nachdem man in vielen Fällen zuvor die Schutzbedürftigkeit der Menschen mit fadenscheinigen Gründen verneint hat.
Man sieht an der Zahl der Abschiebungen, dass sie nicht ins Unermessliche zu steigern ist, aus vielen nachvollziehbaren Gründen, unter denen die Gegenwehr der Betroffenen und ihrer Unterstütz*innen und die öffentliche Kritik an den Abschiebungspraktiken nur einige sind.
Man muss die Realität anerkennen, auch wenn dies den konservativen Kreisen sehr schwer fällt: Viele Menschen, auch diejenigen, die vor 2015 gekommen sind, sind de facto geblieben und werden größtenteils auch bleiben.
Danke, Bernd.
Das Interview führte Anđelka Križanović.