Hintergrund
Flucht vor dem Erdoğan-Regime nimmt zu – EU setzt weiter auf Deal mit der Türkei
Nach dem gescheiterten Putschversuch suchen immer mehr türkische Staatsangehörige Schutz vor dem Regime Erdoğan. Trotzdem wird auch im dritten Jahr des EU-Türkei-Deals die Türkei als flüchtlingspolitisch wertvoller Partner hofiert. Derweil greift der Umbau des Landes weiter um sich.
Der gescheiterte Putschversuch im Juli 2016 bedeutete eine Zäsur für die Türkei, auch wenn der autoritäre Weg des Staatspräsidenten Erdoğan bereits Jahre zuvor eingeschlagen wurde. Unmittelbar nach dem Putschversuch kündigt Erdoğan »Säuberungen« an: Sie richten sich zunächst gegen vermeintliche Putschist*innen innerhalb des Militärs und weiten sich schnell auf Staatsbedienstete aus. Suspendierungen, Entlassungen und Inhaftierungen nehmen massiv zu. Der verhängte Notstand ermöglicht Erdoğan das Regieren per Dekret, was genutzt wird, um gegen Regierungskritiker*innen und Angehörige ethnischer und sexueller Minderheiten vorzugehen.
»Terrorismusbekämpfung« dient als Deckmantel der staatlichen Verfolgung. Den eingeleiteten Verfahren fehlt es meist an stichhaltigen Beweisen, zur Verurteilung kommt es dennoch. Im Juni 2018 sind etwa 50.000 Menschen aufgrund von Terrorismusvorwürfen inhaftiert.
Ende der Rechtsstaatlichkeit
Der politische Einfluss auf die Justiz wird nach dem Auslaufen des Ausnahmezustands im Juli 2018 zum Normalzustand: Das eingeführte Präsidialsystem entbindet Erdoğan von parlamentarischer Kontrolle und gibt ihm mehr Kontrolle über die Justiz. Das »Ein-Personen-Regime« kontrolliert indes niemand mehr. Human Rights Watch erklärt: »Der Ausnahmezustand mag beendet sein, die Rechtsstaatlichkeit aber auch«.
Weit über 100 Journalist*innen wurden nach dem Putschversuch inhaftiert und etwa 150 Medienhäuser geschlossen.
Pressefreiheit in Gefahr
Die Medien sind spätestens seit dem gescheiterten Putschversuch gleichgeschaltet. Kritische Berichterstattung findet höchstens auf Online-Portalen statt, wobei auch hier die Zensur greift. Weit über 100 Journalist*innen wurden nach dem Putschversuch inhaftiert und etwa 150 Medienhäuser geschlossen. Die Türkei bleibt eines der Länder mit den meisten inhaftierten Journalist*innen mit Rang 157 von 180 auf der Rangliste der Pressefreiheit im Jahr 2018. Selbst das Auswärtige Amt spricht von »willkürlichen Inhaftierungen« und warnt vor kritischen Äußerungen in sozialen Medien.
Besonders betroffen: die kurdische Minderheit
Eine Zielgruppe der Repressionen sind Angehörige und Unterstützer der kurdischen Minderheit. Die Immunität von Parlamentarier*innen, allen voran Vertreter*innen der pro-kurdischen demokratischen Partei der Völker (HDP), wurde weitgehend aufgehoben. 2018 werden 50 (Co-)Bürgermeister*innen der HDP inhaftiert.
Bereits 2015 endete der Friedensprozess zwischen Kurd*innen und der Türkei, Militärpräsenz und Übergriffe nahmen zu. 2018 startet die Türkei die Militäroffensive »Operation Olivenzweig« in der nordsyrischen Region Afrin. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages bewertet die türkische Militärpräsenz als völkerrechtswidrig, die Türkei als Besatzungsmacht. »Jeder, der sich gegen die Afrin-Operation der Türkei stellt, unterstützt Terroristen«, heißt es seitens der türkischen Regierung.
Und Flüchtlinge in der Türkei?
Kein Land der Welt hat mehr Schutzsuchende aufgenommen als die Türkei. Ende 2018 waren es etwa vier Millionen. Schutz nach dem Völkerrecht erfahren sie dort nicht. Fluchtrouten in die Türkei werden verstärkt blockiert: 2015 hat die Türkei die Grenze mit Syrien geschlossen. Seit 2018 steht die 764 Kilometer lange Grenzmauer, eine weitere trennt die Türkei vom Iran. Immer wieder gibt es Berichte über den Schusswaffeneinsatz von Grenzposten, illegale Push-Backs scheinen alltäglich zu geschehen. Was genau passiert, bleibt jedoch unklar: Die Türkei wird zur Blackbox, zu gefährlich ist die Berichterstattung aus dem Land selbst.
Hunderttausende vegetieren ohne rechtlichen Status am Rande der Ballungsgebiete.
Asyl im Sinne der Genfer Konvention ist lediglich Europäer*innen vorbehalten. Die meisten Flüchtlinge stammen jedoch aus dem benachbarten Syrien, Afghanistan oder Irak. Sie erhalten einen temporären Status – allzu oft jedoch nur auf dem Papier. Theoretisch bestehende Rechte sind faktisch häufig nicht zugänglich. Seit 2017 wird der Zugang zur Registrierung zunehmend eingeschränkt. Hunderttausende vegetieren ohne rechtlichen Status am Rande der Ballungsgebiete.
Nach dem Putschversuch wurde das Abschieberegime verschärft und Haftkapazitäten ausgebaut. Die Gefahr einer Abschiebung ohne Verfahren ist für Flüchtlinge größer als zuvor. Im Lagebericht des Auswärtigen Amts heißt es, dass es regelmäßig zu Festnahmen von Flüchtlingen, die einen sogenannten »temporären« Status beantragen, kommt – ohne schriftliche Begründung und Rechtsschutz für die Betroffenen, denn einen wirksamen Rechtsbehelf gegen falsche Behördenentscheidungen gibt es in der Praxis kaum. Verwandte und Betroffene berichten, dass Schutzsuchende in Haft zur Unterzeichnung von Unterlagen zur »freiwilligen Rückkehr« gezwungen werden. »Gegenwärtig kann die Türkei als ein insgesamt feindseliges Umfeld für Flüchtlinge und Asylbewerber bezeichnet werden«, resümiert die norwegische Organisation »NOAS« in einem aktuellen Bericht.
Der Deal verhindert Flucht
Immer mehr türkische Staatsangehörige sind gezwungen, die Türkei zu verlassen – was für viele nicht mehr legal möglich ist. Hunderttausende Reisepässe wurden zwischenzeitlich für ungültig erklärt. Viele versuchen zu fliehen, etwa nach Griechenland über den Grenzfluss Evros, der auf Türkisch »Meric« heißt. Doch im Schatten des EU-Türkei-Deals sind auch sie von den harten Grenzkontrollen im Dienste der EU betroffen. Hinzu kommen die Push-Backs: Zuletzt belegte ein Ende 2018 veröffentlichter Bericht, dass die illegale Praxis auch türkische Staatsangehörige trifft.
Anerkennungsquote steigt
Dennoch, einigen türkischen Staatsangehörigen gelingt die Flucht. Vor allem in Griechenland und Deutschland stellen mehr Menschen aus der Türkei einen Asylantrag als in den Jahren zuvor. Waren es in Deutschland 2014 noch etwa 1.500 Asylanträge, sind es 2018 mehr als 10.000 – und fast jede zweite inhaltlich getroffene Entscheidung (46,7 %) ist positiv, ein europaweiter Trend.
In einem Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom Juni 2018 zitiert das Gericht den Lagebericht des Auswärtigen Amtes und bestätigt die Gefahr der willkürlichen Verhaftung. »Die Regierung habe seit dem Putschversuch eine fast alles beherrschende nationalistische Atmosphäre geschaffen, die gleichermaßen auf Furcht, Euphorie, Propaganda und nationale Einheit setze«, heißt es im Urteil wörtlich.
Türkei weiterhin Partner
Trotz der deutlichen Worte einiger Gerichte und des Auswärtigen Amts halten Bundesregierung und EU an der Kooperation mit der inzwischen als Verfolgerstaat agierenden Türkei fest. Zu wichtig, so die gängige Bewertung, scheint der Deal mit der Türkei. Er bietet finanzielle und politische Zugeständnisse im Gegenzug zum »effektiven Grenzmanagement« durch die Türkei. Auch wenn vereinzelt Vorfälle verurteilt werden, bleiben politische Konsequenzen aus. Das erteilt Erdoğan einen Freifahrtschein für Menschenrechtsverletzungen.