04.04.2024
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Deutliche Zerstörung nach Luftangriffen in Gaza-Stadt am 9. Oktober 2023. Foto: Wikimedia Commons

Seit dem brutalen Überfall der Terrororganisation Hamas auf israelische Zivilist*innen tobt in Gaza ein blutiger Krieg, dem bereits über 30.000 Menschen zum Opfer fielen. Obwohl Gerichte Betroffenen subsidiären Schutz zuerkennen, hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Asylverfahren palästinensischer Geflüchteter ausgesetzt.

Eigent­lich ist die Ent­schei­dungs­grund­la­ge für Asyl­an­trä­ge von Flücht­lin­gen aus dem Gaza klar: Wenn in einem inter­na­tio­na­len oder inner­staat­li­chen bewaff­ne­ten Kon­flikt Leib und Leben von Zivil­per­so­nen infol­ge will­kür­li­cher Gewalt indi­vi­du­ell und ernst­haft bedroht sind, und für sie kei­ne Mög­lich­keit besteht, sich sicher in einen ande­ren Teil des Her­kunfts­lan­des zu bege­ben und dort vor die­sem Kon­flikt sicher zu sein, dann ist ihnen in einem deut­schen Asyl­ver­fah­ren nach dem Asyl­ge­setz (AsylG) der soge­nann­te sub­si­diä­re Schutz zu gewäh­ren (§ 4 AsylG in Ver­bin­dung mit § 3e AsylG).

Innerhalb Gazas gibt es keinen sicheren Ort 

Das Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt ist in sei­ner hier­zu bis­lang ergan­ge­nen Recht­spre­chung von einem »body-count«-Ansatz aus­ge­gan­gen. Dem­nach setzt eine »ernst­haf­te indi­vi­du­el­le Bedro­hung des Lebens oder der Unver­sehrt­heit« vor­aus, dass es eine Min­dest­schwel­le von zivi­len Opfern im Ver­hält­nis zur Gesamt­be­völ­ke­rung geben muss. Das Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt hat zwar den Min­dest­wert nie exakt bezif­fert, aber in einem Urteil zum Her­kunfts­land Irak ein­mal aus­ge­führt, dass jeden­falls eine Wahr­schein­lich­keit von 1 zu 800 pro Jahr (cir­ca 0,12 Pro­zent), ver­letzt oder getö­tet zu wer­den, weit unter der erfor­der­li­chen Min­dest­gren­ze lie­ge. Aber zugleich hat es fest­ge­stellt, dass der sub­si­diä­re Schutz zwei­fels­frei bei einer außer­ge­wöhn­li­chen Situa­ti­on zu gewäh­ren sei, die durch einen so hohen Gefah­ren­grad gekenn­zeich­net ist, dass prak­tisch jede Zivil­per­son allein auf­grund ihrer Anwe­sen­heit in dem Gebiet einer ernst­haf­ten indi­vi­du­el­len Bedro­hung aus­ge­setzt wäre.

Die Lage in Gaza ist ein trau­ri­ges Bei­spiel für eine sol­che Situa­ti­on. Nicht nur besteht für jede in Gaza leben­de Per­son rund um die Uhr eine extrem hohe Wahr­schein­lich­keit, frü­her oder spä­ter Opfer der Angrif­fe aus der Luft oder am Boden zu wer­den. Es besteht dar­über hin­aus für die Zivil­be­völ­ke­rung – mit Aus­nah­me weni­ger schwer Ver­letz­ter, denen Ägyp­ten die Ein­rei­se gewährt – kei­ner­lei Mög­lich­keit, sich den Kampf­hand­lun­gen im Gaza­strei­fen zu ent­zie­hen. Inner­halb des Gaza­strei­fens gibt es kei­nen siche­ren Ort.

Gerichte erkennen Geflüchteten aus Gaza den subsidiären Schutz zu

Dies macht auch das Ober­ver­wal­tungs­ge­richt (OVG) des Lan­des Sach­sen-Anhalts in einer Ent­schei­dung deut­lich. In sei­nem Beschluss bereits am 20. Novem­ber 2023 – und damit zeit­lich noch rela­tiv nahe am Beginn des Krie­ges – wies es eine Beru­fung des Bun­des­am­tes für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) gegen die Zuer­ken­nung sub­si­diä­ren Schut­zes für einen aus Gaza stam­men­den Paläs­ti­nen­ser zurück.

30.000

Todes­op­fer seit dem 07.10.23

In einer noch aktu­el­le­ren Ent­schei­dung des Ver­wal­tungs­ge­richts Sig­ma­rin­gen vom 07. März 2024, in dem die­ses eben­falls das BAMF anweist, einem paläs­ti­ni­schen Geflüch­te­ten den sub­si­diä­ren Schutz zuzu­spre­chen, heißt es: »Nach dem Ter­ror­an­griff der Hamas auf Isra­el am 07.10.2023 hat der israe­li­sche Minis­ter­prä­si­dent den Kriegs­zu­stand erklärt. Seit­her ist der Gaza-Strei­fen Ziel einer breit ange­leg­ten israe­li­schen Mili­tär­ope­ra­ti­on mit Bom­bar­de­ments aus der Luft, vom Boden und von der See, die mit unzäh­li­gen zivi­len Opfern, mas­si­ver Zer­stö­rung der zivi­len Infra­struk­tur und einer Bin­nen­ver­trei­bung von ca. 85 % der Bevöl­ke­rung des Gaza-Strei­fens ein­her­geht. Zivi­lis­ten kön­nen im Gaza-Strei­fen nicht in Sicher­heit leben. Allein seit dem 07.10.2023 sind – wenn auch auf der Grund­la­ge von sei­tens des Hamas-Gesund­heits­mi­nis­te­ri­ums zur Ver­fü­gung gestell­ten Daten – mehr als 30.000 Todes­op­fer und mehr als 70.000 Ver­let­ze unter den über­wie­gend zivi­len paläs­ti­nen­si­schen Opfern des Krie­ges gezählt wor­den […]. In einem Zeit­raum von ca. fünf Mona­ten sind damit ca. 4,5 % der Bevöl­ke­rung von Gaza (ca. 2,2 Mio. Ein­woh­ner) getö­tet oder ver­letzt wor­den, mehr­heit­lich dabei Zivi­lis­ten. Und auch die Bin­nen­ver­trei­bung der über­wie­gen­den Mehr­heit der Bevöl­ke­rung macht die Betrof­fe­nen zu zivi­len Konfliktopfern«.

Aktu­ell droht jeder­zeit der Beginn der selbst von den USA als engs­tem Ver­bün­de­ten Isra­els abge­lehn­ten Boden­of­fen­si­ve im Süden des Gaza­strei­fens in und um Rafah. Dort­hin waren nach der Offen­si­ve im Nor­den zu Beginn des Kon­flikts etwa 1,4 Mil­lio­nen Men­schen geflo­hen. Es ist zu erwar­ten, dass die Offen­si­ve wei­ter zu einer immensen Zahl zivi­ler Opfer füh­ren wird.

Auch die katastrophale humanitäre Situation ist asylrechtlich relevant

Doch nicht nur die krie­ge­ri­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen als sol­che stel­len eine ernst­haf­te Bedro­hung der Unver­sehrt­heit und des Lebens der Men­schen in Gaza dar, son­dern auch die kata­stro­pha­le huma­ni­tä­re Situa­ti­on, die das Ver­wal­tungs­ge­richt Sig­ma­rin­gen in der zitier­ten Ent­schei­dung eben­falls als ent­schei­dungs­re­le­vant anführt:

»Auch die huma­ni­tä­re Situa­ti­on ist der­zeit und auf unab­seh­ba­re Zeit unbe­schreib­lich kata­stro­phal. Im Gaza-Strei­fen sind kon­flikt­be­dingt aktu­ell mehr als 70.000 Wohn­ein­hei­ten zer­stört und mehr als 290.000 beschä­digt. Die Bevöl­ke­rung ist kom­plett von – der­zeit völ­lig unzu­rei­chen­den – Hilfs­lie­fe­run­gen abhän­gig. In der Inte­gra­ted Food Secu­ri­ty Pha­se Clas­si­fi­ca­ti­on (IPC-Ska­la) wird für alle 2,2 Mio. Ein­woh­ner des Gaza-Strei­fens der­zeit eine aku­te Nah­rungs­mit­tel- und Lebens­un­ter­halts­kri­se (Pha­se 3) fest­ge­stellt, für 1,17 Mio. Men­schen sogar Pha­se 4 (huma­ni­tä­rer Not­fall) und für mehr als eine hal­be Mil­li­on Men­schen Pha­se 5 (Hun­gers­not / huma­ni­tä­re Kata­stro­phe). Nur eine von drei Was­ser­lei­tun­gen aus Isra­el ist in Betrieb, aller­dings nur mit 47 % ihrer Kapa­zi­tät. 83 Pro­zent der Grund­was­ser­brun­nen sind außer Betrieb, 132 Brun­nen sind zer­stört oder beschä­digt. Zwei der drei gro­ßen Meer­was­ser­auf­be­rei­tungs­an­la­gen sind nur teil­wei­se funk­ti­ons­fä­hig. Das Abwas­ser­sys­tem ist zusam­men­ge­bro­chen. Nur­mehr 12 Kran­ken­häu­ser funk­tio­nie­ren in sehr ein­ge­schränk­tem Umfang. Es gibt kei­nen elek­tri­schen Strom […]«.

»Auch die huma­ni­tä­re Situa­ti­on ist der­zeit und auf unab­seh­ba­re Zeit unbe­schreib­lich kata­stro­phal. Im Gaza-Strei­fen sind kon­flikt­be­dingt aktu­ell mehr als 70.000 Wohn­ein­hei­ten zer­stört und mehr als 290.000 beschädigt. […]«

Ver­wal­tungs­ge­richt Sigmaringen 

Die huma­ni­tä­re Situa­ti­on ver­schlech­tert sich Tag für Tag. Seit Wochen war­nen Hilfs­or­ga­ni­sa­tio­nen, dass Hilfs­ab­wür­fe aus der Luft oder ver­ein­zel­te Lie­fe­run­gen per Schiff eine Hun­gers­not im Gaza­strei­fen nicht abwen­den kön­nen. Ein am 18. März 2024 ver­öf­fent­lich­ter Bericht meh­re­rer UN-Orga­ni­sa­tio­nen bestä­tig­te, dass von den rund zwei Mil­lio­nen Men­schen im Gaza­strei­fen der­zeit 677.000 Men­schen unter »kata­stro­pha­lem Hun­ger« lei­den – das ist die höchs­te Warn­stu­fe in der dem Bericht zugrun­de lie­gen­den IPC-Ana­ly­se von Nah­rungs­kri­sen (Inte­gra­ted Food Secu­ri­ty Pha­se Clas­si­fi­ca­ti­on). Bin­nen Wochen könn­te die Zahl auf mehr als eine Mil­li­on stei­gen, eine Hun­gers­not kön­ne im abge­rie­gel­ten Nor­den schon ab März ein­tre­ten. US-Außen­mi­nis­ter Blin­ken beton­te etwa zeit­gleich, dass »100 Pro­zent der Bevöl­ke­rung in Gaza unter schwer­wie­gen­der aku­ter Ernäh­rungs­un­si­cher­heit« lit­ten. »Das ist das ers­te Mal, dass eine gan­ze Bevöl­ke­rung so ein­ge­stuft wurde«.

BAMF legt Asylverfahren von Palästinenser*innen auf Eis

Vor die­sem Hin­ter­grund völ­lig unver­ständ­lich ist: Trotz der natio­na­len sowie inter­na­tio­na­len Recht­spre­chung und trotz der sich wei­ter­hin zuspit­zen­den Gefah­ren durch Kampf­hand­lun­gen und Hun­ger hat das BAMF die Asyl­ver­fah­ren paläs­ti­nen­si­scher Schutz­su­chen­der seit dem 9. Janu­ar 2024 auf Eis gelegt. Die Behör­de begrün­det das damit, dass auf­grund des Krie­ges die Lage vor Ort zu unüber­sicht­lich sei, um die Gefähr­dung der Schutz­su­chen­den im Fall einer Rück­kehr vali­de zu bewer­ten (sie­he die Ant­wort des Innen­mi­nis­te­ri­ums auf eine Fra­ge der Lin­ken-Abge­ord­ne­ten Cla­ra Bün­ger, S. 19575) und beruft sich dabei auf § 24 Absatz 5 AsylG. Die­ser Absatz ermög­licht, Asyl­ver­fah­ren aus­zu­set­zen, wenn »im Her­kunfts­staat eine vor­über­ge­hend unge­wis­se Lage« besteht. Nor­ma­ler­wei­se gilt nach Absatz 4 des glei­chen Para­gra­fen, dass das BAMF in der Regel inner­halb von sechs Mona­ten – bei beson­de­ren, tat­säch­lich oder recht­lich kom­ple­xen Fra­gen oder einer beson­ders gro­ßen Anzahl von Asyl­an­trä­gen spä­tes­tens inner­halb von 15 Mona­ten – über Asyl­an­trä­ge zu ent­schei­den hat.

Jedoch ist die Situa­ti­on in Gaza bei der Fra­ge nach der Zuer­ken­nung sub­si­diä­ren Schut­zes kei­nes­wegs »unge­wiss«, son­dern im Gegen­teil so klar, wie wohl nie seit Bestehen die­ses Schutz­sta­tus. Damit lie­gen die Vor­aus­set­zun­gen für eine län­ger­fris­ti­ge Aus­set­zung der Asyl­ver­fah­ren kei­nes­wegs vor. Das drängt den Ver­dacht auf, dass das BAMF ledig­lich auf Zeit spielt, um nach Been­di­gung der Kriegs­hand­lun­gen die offe­nen Asyl­an­trä­ge abzu­leh­nen. Der Ver­weis auf § 24 Absatz 5 AsylG wäre in die­sem Fall missbräuchlich.

Die Lage in Gaza ist nicht ungewiss, sondern eindeutig katastrophal

In einer Ent­schei­dung vom 13. März 2024 hat das Ver­wal­tungs­ge­richt Han­no­ver zu Recht dar­auf hin­ge­wie­sen, dass im Fal­le sich über Mona­te hin­weg inten­si­vie­ren­der Kämp­fe (hier im Sudan) nicht von einer »unge­wis­sen Lage« im Sin­ne des § 24 Absatz 5 AsylG gespro­chen wer­den kann. In der Ent­schei­dung wird in aller Deut­lich­keit hervorgehoben:

»Die Mög­lich­keit der Aus­set­zung der Ent­schei­dung wegen vor­über­ge­hend unge­wis­ser Lage im Her­kunfts­staat dient nicht dazu, die Rea­li­sie­rung abseh­bar bestehen­der Aner­ken­nungs­an­sprü­che zu verhindern«.

Das Glei­che gilt natür­lich auch für die Situa­ti­on in Gaza, die von nun­mehr über fünf­mo­na­ti­gen inten­si­ven Kampf­hand­lun­gen geprägt ist. Die Untä­tig­keit des BAMF ist dabei nicht nur rechts­wid­rig, son­dern sie ist auch des­we­gen nicht nach­voll­zieh­bar, als es sich bei den Schutz­su­chen­den aus Gaza nur um ein paar weni­ge hun­dert Men­schen han­deln kann: Ende Febru­ar 2024 gab es ins­ge­samt 1.108 offe­ne Asyl­ver­fah­ren beim BAMF, davon 1.058 Erst- und 50 Fol­ge­ver­fah­ren. Wohl­ge­merkt sind das sämt­li­che Asyl­ver­fah­ren von Palästinenser*innen aus allen paläs­ti­nen­si­schen Gebie­ten, nicht nur der­je­ni­gen aus Gaza – also auch von Schutz­su­chen­den aus der West­bank oder Ost­je­ru­sa­lem (eine Sta­tis­tik von Asyl­ver­fah­ren nur von Palästinenser*innen aus Gaza exis­tiert nicht).

Es lässt sich anhand die­ser Zah­len daher nicht fest­stel­len, aus wel­chen Gebie­ten die Geflüch­te­ten jeweils stam­men, aber es ist sicher, dass nur ein Teil die­ser Per­so­nen aus Gaza stammt.

Das BAMF muss Schutz erteilen!

PRO ASYL for­dert das BAMF auf: Die Prü­fung der Asyl­an­trä­ge von aus Gaza stam­men­den Palästinenser*innen muss unver­züg­lich wie­der auf­ge­nom­men wer­den und dem gesam­ten Per­so­nen­kreis muss Schutz gewährt wer­den – wenn nicht aus indi­vi­du­el­len Grün­den die Flücht­lings­ei­gen­schaft aner­kannt wer­den kann, ist wegen der alle Men­schen in Gaza betref­fen­den ernst­haf­ten Bedro­hung des Lebens und der Unver­sehrt­heit der sub­si­diä­re Schutz zu gewähren.

Betrof­fe­nen Schutz­su­chen­den rät PRO ASYL, nach Ablauf der Regel­ent­schei­dungs­frist von sechs Mona­ten nach Asyl­an­trag­stel­lung eine Untä­tig­keits­kla­ge nach § 24 Absatz 4 AsylG zu erhe­ben. Hier­für soll­ten sich Betrof­fe­ne an kom­pe­ten­te Bera­tungs­stel­len und Rechtsanwält*innen wenden.

(pva)