24.04.2024
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2014 schoss die griechische Küstenwache ein ganzes Magazin auf ein Flüchtlingsboot - mit tragischen Folgen. Foto: picture-alliance / dpa | Orestis_Panagiotou

Beamte der griechischen Küstenwache eröffnen im September 2014 das Feuer auf ein Flüchtlingsboot und treffen zwei Syrer – einen davon tödlich. Mit Unterstützung von PRO ASYL verklagen die Hinterbliebenen Griechenland vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof. Dieser gibt ihnen nun in allen Punkten Recht.

Pse­ri­mos, 22. Sep­tem­ber 2014. Zwölf Flücht­lin­ge befin­den sich in einem Boot auf dem Weg von der Tür­kei nach Grie­chen­land. Mor­gens um 6:45 Uhr fährt das Boot in eine Bucht der Insel Pse­ri­mos ein und wird dabei von einem Schiff der grie­chi­schen Küs­ten­wa­che ent­deckt, das in der Gegend patrouil­liert. Als das Boot zunächst nicht stoppt, eröff­nen die Beam­ten der Küs­ten­wa­che das Feu­er. Sie ver­schie­ßen ein gan­zes Maga­zin, ins­ge­samt 13 Schüs­se feu­ern sie direkt auf das Boot ab. Die tra­gi­schen Fol­gen: Bel­al Tel­lo, ein syri­scher Fami­li­en­va­ter, erlei­det einen Kopf­schuss. Nour Kha­led*., ein wei­te­rer Syrer, der mit sei­ner Frau und sei­ner Toch­ter auf dem Boot ist, wird von einer Kugel in der Schul­ter getroffen.

Tödliche Kopfverletzung: Kontakt »nur über die Augen«

Bel­al wird mit lebens­ge­fähr­li­chen Kopf­ver­let­zun­gen in ein Kran­ken­haus nach Rho­dos gebracht. Er liegt im Koma, die Ärzt*innen kämp­fen um sein Leben. Min­des­tens sie­ben­mal wird er ope­riert, erst nach einem hal­ben Jahr wird er von der Inten­siv­sta­ti­on auf die nor­ma­le Sta­ti­on ver­legt. Sein Gesund­heits­zu­stand ist wei­ter­hin kri­tisch: Er atmet über einen Luft­röh­ren­schnitt und wird mit einer Son­de ernährt. Er kann sich nicht bewe­gen, nicht spre­chen und nur über Augen­kon­takt mit sei­ner Umge­bung kommunizieren.

Mari­an­na Tze­fera­kou und Natas­sa Strach­i­ni, die heu­te als Anwäl­tin­nen für unse­re grie­chi­sche Part­ner­or­ga­ni­sa­ti­on Refu­gee Sup­port Aege­an (RSA) arbei­ten, über­neh­men zeit­nah nach dem Vor­fall das Man­dat für Bel­al Tel­lo und Nour Kha­led*. Finan­ziert wird ihre Tätig­keit in dem Fall auch damals schon von PRO ASYL.

Die Ehe­frau von Bel­al, Douaa Alk­ha­tib, befin­det sich mit den bei­den gemein­sa­men Kin­dern – damals zwei und drei Jah­re alt – wäh­rend­des­sen noch in Syri­en. Sie befürch­tet, dass Bel­al ster­ben wird und möch­te ihn mit den bei­den Kin­dern zumin­dest noch­mal besu­chen. Doch die grie­chi­schen Behör­den stel­len sich quer. Nur Douaa erhält ein Visum und kann für weni­ge Tage zu ihrem Mann rei­sen. Ihre bei­den Kin­der muss sie allei­ne bei Ver­wand­ten in Syri­en zurücklassen.

Rück­bli­ckend erzählt Douaa:

»Die Tat­sa­che, dass ich kei­ne Papie­re für die Ein­rei­se mei­ner Kin­der nach Grie­chen­land bekom­men konn­te, hat mich und mei­ne Kin­der am meis­ten getrof­fen. Das hat sie trau­ma­ti­siert – sie hat­ten ihren Vater ver­lo­ren und danach ver­lo­ren sie auch noch ihre Mut­ter – sie wuss­ten nicht, wo ich war, sie glaub­ten, ich hät­te sie ver­las­sen. Mein Sohn, der noch sehr klein war, wei­ger­te sich lan­ge Zeit, mit mir zu spre­chen. Er hat­te gera­de gese­hen, wie sein Vater ver­reis­te und dann nicht wie­der­kam, und dann sah er mich rei­sen und dach­te, ich wür­de ihn auch verlassen.

Wenn die Behör­den uns Doku­men­te gege­ben hät­ten, wäre ich mit mei­nen Kin­dern gereist, wir wären zusam­men gewe­sen. Das wäre emo­tio­nal viel ein­fa­cher gewe­sen und die Kin­der hät­ten sich sicher gefühlt, zumin­dest bei mir. Das ers­te Ver­bre­chen der grie­chi­schen Regie­rung ist, dass sie mei­nen Mann erschos­sen haben, und ihr zwei­tes, dass sie mei­nen Kin­dern die Papie­re ver­wei­ger­ten, und ich allein gelas­sen wur­de. Zehn Jah­re nach dem Vor­fall hat mei­ne Toch­ter immer noch Angst, mich zu verlieren«.

»Das ers­te Ver­bre­chen der grie­chi­schen Regie­rung ist, dass sie mei­nen Mann erschos­sen haben, und ihr zwei­tes, dass sie mei­nen Kin­dern die Papie­re ver­wei­ger­ten, und ich allein gelas­sen wurde.«

Douaa Alk­ha­tib, Wit­we von Bel­al Tello

Bel­als Situa­ti­on ist aus­sichts­los: Er muss rund um die Uhr über­wacht und gepflegt wer­den, was das grie­chi­sche Gesund­heits­sys­tem ohne Unter­stüt­zung durch Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge nicht leis­ten kann. Spe­zi­ell auf sei­ne Bedürf­nis­se ange­pass­te Reha-Maß­nah­men gibt es auf Rho­dos nicht. Sei­ne Ehe­frau Douaa ist mit den bei­den Kin­dern inzwi­schen vor dem Krieg in Syri­en nach Schwe­den geflo­hen und hat dort Asyl beantragt.

In einem bei­spiel­lo­sen Ver­fah­ren sor­gen unse­re grie­chi­schen Anwäl­tin­nen dafür, dass er nach Schwe­den zu sei­ner Fami­lie aus­ge­flo­gen wird. Die Kos­ten für den Kran­ken­trans­port in Beglei­tung eines Arz­tes und einer Kran­ken­schwes­ter über­nimmt PRO ASYL.

Am 20. August 2015 kommt Bel­al in Schwe­den an und wird sofort in die neu­ro­lo­gi­sche Reha-Abtei­lung des Karo­lins­ka Uni­ver­si­täts­kli­ni­kums in Stock­holm gebracht. Sein Zustand ver­schlech­tert sich den­noch, er ver­liert das Bewusst­sein. Am 17. Dezem­ber 2015 stirbt er.

Das zweite Opfer: Dauerhafte Behinderung

Auch Nour Kha­led* wird an jenem Tag vor Pse­ri­mos von den Schüs­sen der Küs­ten­wa­che getrof­fen. So wie Bel­al flieht auch er vor dem syri­schen Bür­ger­krieg. Er erzählt:

»Ich habe eine sol­che Behand­lung nicht erwar­tet, als ich vor dem Krieg in Syri­en nach Euro­pa geflo­hen bin, einem Ort, der für die Men­schen­rech­te ste­hen soll. Ich war scho­ckiert, als ich erkann­te, dass mich in die­sem Meer nur der Tod erwar­te­te. Der Küs­ten­wa­che war klar, dass sich in dem Boot nur unbe­waff­ne­te und hilf­lo­se Men­schen befan­den, die nur ver­such­ten, vor dem Krieg zu flie­hen und sich in Sicher­heit zu brin­gen. Das war für sie ganz offen­sicht­lich. Es war sehr grau­sam, wie sie Men­schen behandeln«.

Die Kugel zer­trüm­mert das Schul­ter­ge­lenk von Nour Kha­led* und durch­trennt meh­re­re Mus­keln. Bis heu­te kann er sei­nen lin­ken Arm nicht rich­tig ver­wen­den und ist im All­tag auf Unter­stüt­zung ange­wie­sen. Unse­re Anwäl­tin­nen haben Grie­chen­land auf Scha­dens­er­satz für Nour Kha­led* ver­klagt. Anfang des Jah­res hat das zustän­di­ge Gericht die Kla­ge abge­wie­sen, eine Ent­schei­dung über die ein­ge­leg­te Beru­fung steht.

In Griechenland wurde der Fall Pserimos nie vor Gericht verhandelt

Nach den Schüs­sen in der Bucht von Pse­ri­mos lei­tet die zustän­di­ge Staats­an­walt­schaft ein vor­läu­fi­ges Ermitt­lungs­ver­fah­ren gegen die bei­den Beam­ten der Küs­ten­wa­che ein. Das Ver­fah­ren weist jedoch gra­vie­ren­de Män­gel auf: Zeu­gen­aus­sa­gen wer­den vor­ge­fer­tigt abge­fasst, Bel­al Tel­lo und Nour Kha­led* selbst nie befragt, gerichts­me­di­zi­ni­sche und bal­lis­ti­sche Gut­ach­ten nicht ein­ge­holt. Im Juni 2015 stellt die Staats­an­walt­schaft das Ver­fah­ren – lei­der wenig über­ra­schend – ein. Die Begrün­dung: Nicht die Beam­ten der Küs­ten­wa­che sei­en ver­ant­wort­lich, son­dern die Fah­rer des Flüchtlingsbootes.

Unse­re Anwäl­tin­nen rei­chen dar­auf­hin im Namen von Douaa Alk­ha­tib und ihren bei­den Kin­dern im Dezem­ber 2015 Beschwer­de beim Euro­päi­schen Gerichts­hof für Men­schen­rech­te (EGMR) in Straß­burg ein. Sie rügen eine Ver­let­zung von Arti­kel 2 der Euro­päi­schen Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on – dem Recht auf Leben.

Am 16. Janu­ar 2024, fast ein Jahr­zehnt nach den töd­li­chen Schüs­sen, dann das Urteil, das vor weni­gen Tagen rechts­kräf­tig gewor­den ist (Alk­ha­tib u.a. gegen Grie­chen­land, 3566/16). Die Richter*innen des EGMR geben Douaa Alk­ha­tib und ihren bei­den Kin­dern auf gan­zer Linie Recht.

Am 16. Janu­ar 2024, fast ein Jahr­zehnt nach den töd­li­chen Schüs­sen, geben die Richter*innen des EGMR, Douaa Alk­ha­tib und ihren bei­den Kin­dern auf gan­zer Linie Recht.

Sie kom­men zu dem Schluss, dass der Schuss­waf­fen­ein­satz nicht gerecht­fer­tigt war und die Küs­ten­wa­che ein­deu­tig unver­hält­nis­mä­ßi­ge Gewalt ange­wen­det hat. Die grie­chi­sche Regie­rung konn­te in dem Ver­fah­ren nicht ein­mal kla­re recht­li­che Regeln für den Schuss­waf­fen­ein­satz durch die Küs­ten­wa­che vor­le­gen. Auch bezüg­lich der grie­chi­schen Staats­an­walt­schaft fällt das Urteil ver­nich­tend aus: Die von den natio­na­len Behör­den durch­ge­führ­te Unter­su­chung wei­se »zahl­rei­che Män­gel [auf], die unter ande­rem zum Ver­lust von Beweis­mit­teln führ­ten und die Unter­su­chung unzu­rei­chend mach­ten«. Die Richter*innen spre­chen Douaa Alk­ha­tib und ihren Kin­dern eine Ent­schä­di­gung in Höhe von 80.000€ zu.

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Douaa hat uns gegen­über betont, wie wich­tig die Ent­schei­dung für sie und ihre Kin­der ist:

»Es ist sehr wich­tig für uns, dass wir gewon­nen haben, denn ers­tens bringt dies Gerech­tig­keit für mich und mei­ne Kin­der, aber auch für mei­nen Mann, der gestor­ben ist, Bel­al, der erschos­sen wur­de. Zwei­tens ist dies ein Beweis dafür, dass es nicht nur gegen die­se eine Per­son, son­dern gegen vie­le Men­schen Gewalt gege­ben hat. Für Bel­al haben wir vor Gericht Recht bekom­men, denn es wur­de fest­ge­stellt, dass ein Ver­stoß vor­lag. Vie­le Men­schen bekom­men kei­ne Gerech­tig­keit, und das ist ein Zei­chen dafür, dass hier etwas falsch läuft.

»Es ist sehr wich­tig für uns, dass wir gewon­nen haben, denn ers­tens bringt dies Gerech­tig­keit für mich und mei­ne Kin­der, aber auch für mei­nen Mann, der gestor­ben ist, Bel­al, der erschos­sen wurde.«

Douaa Alk­ha­tib, Wit­we von Bel­al Tello

Für unse­re Kin­der ist es wirk­lich wich­tig zu wis­sen, was mit ihrem Vater pas­siert ist und was das Pro­blem war, wer die Schul­di­gen waren. Das ist eine gewis­se Ent­schä­di­gung für das, was sie ver­lo­ren haben. Natür­lich ent­schä­digt uns das nicht voll­stän­dig. Die­se Ent­schei­dung bringt ihren Vater nicht zurück, aber zumin­dest wis­sen sie jetzt, was pas­siert ist. Wir haben bewie­sen, dass die Ermitt­lun­gen der Behör­den unzu­rei­chend waren und dass sie sich die Geschich­ten über Bel­al nur aus­ge­dacht haben«.

Kein Einzelfall, sondern ein systemisches Problem

Die tra­gi­sche Geschich­te von Bel­al Tel­lo und sei­ner Fami­lie reiht sich ein in eine gan­ze Ket­te an Fäl­len, in denen die grie­chi­sche Küs­ten­wa­che schutz­su­chen­de Men­schen miss­han­delt oder ihren Tod bil­li­gend in Kauf nimmt. Er steht exem­pla­risch für die Will­kür, mit der grie­chi­sche Behör­den gegen Schutz­su­chen­de vor­ge­hen. Und er illus­triert erneut den Unwil­len der grie­chi­schen Jus­tiz, Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen gegen­über Geflüch­te­ten in einem rechts­staat­li­chen Ver­fah­ren auf­zu­ar­bei­ten und die Ver­ant­wort­li­chen im Staats­dienst zur Rechen­schaft zu ziehen.

Unse­re grie­chi­schen Kolleg*innen von RSA haben in den letz­ten Jah­ren gemein­sam mit PRO ASYL zahl­rei­che Schutz­su­chen­de ver­tre­ten, die über ähn­lich schwer­wie­gen­de Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen im Zusam­men­hang mit Ope­ra­tio­nen der Küs­ten­wa­che berich­ten. In drei die­ser Fäl­le sind aktu­ell Beschwer­den vor dem EGMR anhän­gig (Almukh­las und Al-Malik gegen Grie­chen­land, 22776/18; Alnas­sar gegen Grie­chen­land, 43746/20; F.M. und Ande­re gegen Grie­chen­land, 17622/21).

Erst im Juli 2022 hat der Men­schen­rechts­ge­richts­hof Grie­chen­land in einem weg­wei­sen­den Urteil wegen des Todes von elf Schutz­su­chen­den vor der Insel Farm­a­ko­ni­si im Rah­men einer Push­back-Ope­ra­ti­on der grie­chi­schen Küs­ten­wa­che im Janu­ar 2014 in allen zen­tra­len Punk­ten ver­ur­teilt (Safi und Ande­re gegen Grie­chen­land, 5418/15). Auch in die­sem Fall hat der Gerichts­hof die man­gel­haf­te Auf­ar­bei­tung des Vor­falls durch die grie­chi­sche Jus­tiz gerügt – die Staats­an­walt­schaft hat­te die Ermitt­lun­gen gegen die Beam­ten der Küs­ten­wa­che ähn­lich wie im Fall von Pse­ri­mos sehr schnell ein­ge­stellt. PRO ASYL hat auch die­ses Ver­fah­ren maß­geb­lich unter­stützt.

Es ist ein gro­ßer Erfolg und das Ergeb­nis eines auf­wen­di­gen und jah­re­lan­gen Ver­fah­rens, dass der Euro­päi­sche Men­schen­rechts­ge­richts­hof Grie­chen­land nun erneut ver­ur­teilt hat. Doch das sys­te­mi­sche Pro­blem bleibt: Vie­le Opfer der grie­chi­schen Behör­den erhal­ten nie Gerech­tig­keit. Und auch die ein­schlä­gi­gen Urtei­le des EGMRs hal­ten grie­chi­sche Behör­den nicht davon ab, wei­te­re Kata­stro­phen mit wei­te­ren Toten zu ver­ur­sa­chen. Die EU und ihre Mit­glied­staa­ten müs­sen des­halb end­lich sämt­li­che Mit­tel aus­schöp­fen, um Grie­chen­land zu sank­tio­nie­ren und wei­te­re Tote zu verhindern!

(rsa / ame, mk, jo)

*Name zum Schutz geändert